
Der Narz in mir
von Marcus Woggesin – 08. März 2025Es ist ein Thema, das viele von uns nur ungern ansprechen: der Narzisst in uns selbst. Ja, ich weiß, das Wort „Narzisst“ hat einen schlechten Ruf. Es wird oft mit Egozentrik, Manipulation und einem übersteigerten Bedürfnis nach Bewunderung in Verbindung gebracht. Doch was, wenn ich dir sage, dass jeder von uns einen kleinen Narzissten in sich trägt? Und nein, ich meine nicht den pathologischen Narzissmus, der Beziehungen zerstört und Menschen verletzt. Ich spreche von den ganz normalen, menschlichen Zügen, die uns manchmal dazu verleiten, uns selbst in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich selbst habe mich lange dagegen gewehrt, diesen Teil in mir anzuerkennen. „Ich bin doch kein Narzisst!“, dachte ich immer. Doch dann kam der Moment, in dem ich mich fragte: Warum fühle ich mich so unwohl, wenn ich nicht gelobt werde? Warum ärgere ich mich, wenn jemand meine Ideen nicht sofort begeistert aufgreift? Und warum fällt es mir manchmal so schwer, zuzuhören, ohne gleich meine eigene Geschichte erzählen zu wollen? Plötzlich wurde mir klar: Da ist er, der Narzisst in mir. Und er ist viel präsenter, als ich es mir eingestehen wollte.
Der Narzisst in mir ist kein Monster. Er ist ein Teil von mir, der nach Anerkennung und Bestätigung sucht. Er will gesehen werden, geliebt werden, wichtig sein. Und das ist erstmal nichts Schlechtes. Schließlich sind wir soziale Wesen, und ein gewisses Maß an Selbstliebe und Selbstachtung ist notwendig, um gesunde Beziehungen zu führen. Doch wie bei allem im Leben kommt es auf die Dosis an. Wenn der Narzisst in mir zu laut wird, kann er schnell zum Problem werden.
Ich erinnere mich an eine Situation, die mir die Augen geöffnet hat. Ich war bei einem Treffen mit Freunden, und wir unterhielten uns über unsere aktuellen Projekte. Als eine Freundin von ihrem neuen Job erzählte, spürte ich plötzlich dieses ungute Gefühl in der Magengegend. Ich wollte unbedingt auch etwas erzählen, etwas, das mindestens genauso beeindruckend war. Ich unterbrach sie fast, um von meinem eigenen Erfolg zu berichten. In diesem Moment wurde mir klar: Da war er wieder, der Narzisst in mir, der unbedingt im Mittelpunkt stehen wollte.
Aber anstatt mich dafür zu verurteilen, beschloss ich, diesen Teil von mir genauer zu betrachten. Warum fühlte ich das Bedürfnis, mich in den Vordergrund zu drängen? War es Unsicherheit? Angst, nicht genug zu sein? Oder einfach der Wunsch, geliebt und bewundert zu werden? Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass der Narzisst in mir oft aus einem Mangel heraus handelt – einem Mangel an Selbstwertgefühl, an innerer Sicherheit.
Und hier kommt der entscheidende Punkt: Der Narzisst in mir ist nicht mein Feind. Er ist ein Teil von mir, der versucht, mich zu schützen. Er will, dass ich mich gut fühle, dass ich geliebt werde, dass ich erfolgreich bin. Doch er hat nicht immer die besten Methoden. Manchmal übertreibt er, manchmal wird er zu laut, zu fordernd. Und dann ist es meine Aufgabe, ihn zu zügeln, ihm zu zeigen, dass ich auch ohne ständige Bestätigung gut genug bin.
Ich habe gelernt, mit dem Narzissten in mir zu arbeiten, anstatt gegen ihn zu kämpfen. Wenn ich spüre, dass er wieder zu viel Raum einnimmt, atme ich tief durch und frage mich: Was brauche ich wirklich in diesem Moment? Brauche ich wirklich die Bewunderung anderer, oder kann ich mir selbst genug sein? Oft reicht es schon, sich diese Fragen zu stellen, um den Narzissten in mir zu beruhigen.
Letztendlich geht es darum, ein Gleichgewicht zu finden. Der Narzisst in mir ist nicht schlecht – er ist ein Teil von mir, der gesehen werden will. Aber er muss nicht immer im Mittelpunkt stehen. Indem ich ihn anerkenne, ohne ihm die Kontrolle zu überlassen, kann ich ein gesundes Maß an Selbstliebe und Selbstachtung entwickeln. Und das ist vielleicht die größte Herausforderung: den Narzissten in mir zu akzeptieren, ohne ihm zu erlauben, mein Leben zu bestimmen.
Also, was ist mit dir? Hast du schon einmal den Narzissten in dir bemerkt? Vielleicht ist es an der Zeit, ihn kennenzulernen – nicht als Feind, sondern als einen Teil von dir, der einfach nur geliebt werden will.